„Der Höhepunkt wird in Bern erreicht“

Von Winterthur nach Brig – Von Mitreis(s)ender Hilfsbereitschaft

 

Zum Glück konnten wir schon in Winterthur zusteigen … Ostern soll das Wetter traumhaft werden. Offenkundig sind wir nicht die einzigen, die das nutzen möchten.

 

Ihr kennt den Familienwagen der SBB? Den von den Doppelstockzügen? Im oberen Stock ist ein Spielplatz eingebaut, in der unteren Etage gibt es einen kleinen Sitzbereich und Platz für Fahrräder, Kinderwagen, Anhänger, und was die Leute sonst noch so alles selbst verladen möchten.

 

Von Dingen, die die Leute selbst verladen möchten, gibt es an diesem Karfreitag reichlich. In der ganzen Zugkomposition steht aber nur ein einziger Wagen zur Verfügung, der für die sperrige Ware der Ausflügler vorgesehen ist. Gelinde gesagt: Das ist zu wenig. Entsprechend ist es auch Thema Nummer eins im Zug.

 

Wir sitzen einander gegenüber am Fenster. Da wir schon drin sind, alles verstaut haben und auch bis zur Endstation nicht mehr aussteigen müssen, was bedeutet, dass wir unsere Fahrräder nicht über den ganzen Gepäckhaufen hinweg aus dem Zug schaffen müssen, können wir das Intermezzo genießen.

 

Der Höhepunkt wird in Bern erreicht. Mein Partner steigt aus dem Zug aus, weil er im Speisewagen am andern Ende der Kombo Kaffee kaufen möchte. Zurückkehren will er, indem er den Zug durchquert. Müsste möglich sein. Müsste man meinen. Doch erst da offenbart sich ihm das ganze Ausmaß des Durcheinanders. Kinder, Koffer, Kinderwagen, Fahrräder, Anhänger, Reisende, Hunde, Rucksäcke … Einfach alles. Überall. In den Gängen, auf den Treppen, in den Toiletten. Er steigt aus dem Zug wieder aus und schafft es knapp vor Abfahrt zurück zu mir. Vom Kaffee hat er kein Tröpfchen verschüttet.

 

Der Zug fährt los. Über unseren Köpfen rumpelt es. Ziemlich sicher ein Kind, das hingefallen ist. Wer schon in solchen Zügen unterwegs war, erkennt das Geräusch. Passiert ist dem Kind bestimmt nichts. Aber erschrocken hat es sich allemal. Wir schließen eine Wette ab, wie lange es dauert, bis wir das Weinen zum dumpfen Plumpsen vernehmen. Das ist gemein, wissen wir. Trotzdem wetten nicht nur wir beide an den Fenstern. Auch die zwei Fremden, die sich den Platz neben uns ergattern konnten, schließen eine Wette ab. Unabhängig von uns.

 

Sie sehen sich bedeutungsschwanger an und nennen Zahlen. Es ist klar, worum es geht. Das Gebrüll geht gleich darauf los. Etwa fünf Sekunden nach Aufprall. Wir vier in unserem Abteil, die sich nicht kennen und in diesem Moment doch eine Gemeinsamkeit teilen, grinsen uns an. Der Fremde links von mir hat gewonnen.

 

Dumpf vernehmen wir tröstende Worte. Schnell klingt das Weinen ab und das andere Gebrüll, das spielerische, lustige, nimmt wieder Überhand. Es mag nicht die feine Art sein, sich auf Kosten anderer lustig zu machen, nein, aber es gehört irgendwie dazu. Es schadet niemandem und: Es gehört zu diesem Familienwagen und denen, die darin reisen mit dazu.

 

Es gehört aber auch dazu, dass man sich hilft. Denn es gibt sie noch, diese ganz selbstverständliche Hilfsbereitschaft. Sie passiert. Im Zug. Am Karfreitag. Wenn sich die Schiebetür nicht automatisch öffnet und Mensch dagegen prallt. Dann wedelt jemand Fremdes vor dem Sensor rum, bis die Scheibe zur Seite rückt. Wenn der ganze Wagen schon so voll ist, dass nur noch gestapelt werden kann. Dann wird gerückt und geschoben, damit der, den man draußen entdeckt hat, der mit dem etwas verzweifelten Gesichtsausdruck, der, der bestraft wird, weil er ein paar Haltestellen später zusteigen möchte, doch noch ein Plätzchen bekommt.

 

So viele Egoisten, wie es in den ÖV gibt, so viele Gutmenschen gibt es. Während einige die Augen verdrehen, weil sie die Tasche vom Sitz nehmen müssen, um für jemanden Platz zu machen, geben andere freiwillig ihren Platz her, damit eine Familie nicht im ganzen Wagen verteilt sitzen muss.

 

Ja, es gibt sie noch, diese ganz uneigennützige, ganz natürliche Hilfsbereitschaft. Das zu erkennen, ist irgendwie wohltuend.

 

Kolumne "Autorin auf Schienen"; veröffentlicht auf berglink.de

 

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