„Der Kerl mit den gezupften Augenbrauen“

Von Basel nach Grindelwald – Von Musik und Kopfhörern

 

Ihr steht am Bahnhof. Kopfhörer in den Ohren. Euer Handy sucht die Songs nach dem Zufallsprinzip aus. Ihr wartet auf den Zug, lest Zeitung oder seid mit eurer Gedankenverlorenheit beschäftigt. Trotzdem wippt ihr mit der Musik mit. Trommelt den Rhythmus mit Zeige- und Mittelfinger auf eurem Bein nach. Vielleicht summt ihr sogar. Ihr wisst es nicht so genau, ihr seid ja abgelenkt. Bis zu dem Augenblick, in dem auf einmal hinterrücks eine Tonabfolge durch euren Gehörgang tanzt, sich durch die Hirnwindungen schlängelt und den Weg an den Ort findet, wo eure Aufmerksamkeit sitzt. Das ist der Moment, an dem ihr langsam wahrnehmt, welcher Song euch ins Gehör scheppert. David Hasselhoffs «Limbo Dance» oder Britney Spears «Hit me Baby one more Time»? Das sind Songs, die ihr irgendwie lustig findet, die euch an die guten alten Zeiten erinnern. An die tiefen 90er, als ihr eure Brieftaschen noch mit Klett geschlossen und sie mit Ketten an der Latzhose festgemacht habt.
Ihr schmunzelt. Über die Töne in euren Ohren, die Erinnerungen, die sie heraufbeschwören. Ihr schaut euch um. Kurz fragt ihr euch vielleicht, ob ihr unbewusst mitgesungen habt? Kam angeblich schon vor … Mitten im Sommer, vor dem Kühlregal in der Migros. Da sang einer «Last Christmas» von Wham!. Er realisierte es nicht, bis eine Dame ihm im Vorbeigehen frohe Weihnachten wünschte …

 

Euer Zug fährt ein und ihr steigt zu. Fahrt zur Arbeit. Die Menschen rund um euch herum sind auf ihre Handys fixiert, haben selbst Kopfhörer eingestöpselt oder genießen noch die letzte Möglichkeit, eine Mütze Schlaf zu bekommen, bevor der Tag richtig los geht. Und ihr? Habt ihr euch gefragt, was wäre, wenn der Nachbar links von euch, der, der stoisch auf den bläulich schimmernden Laptopbildschirm starrt, gehört hätte, von welchem Sound ihr gerade berieselt werdet? Oder der coole Kerl mit den gezupften Augenbrauen und dem nach hinten gegeelten Haar? Er ist etwa halb so alt wie ihr, und eine ganz andere (Musik-)Generation. Würde er das Lied überhaupt noch kennen? Wäre es für ihn ein Oldie? Oder schlimmer noch: Kennt er David Hasselhoff noch? Würdet ihr ihn am liebsten danach fragen? Nein. Eigentlich seid ihr einfach nur froh, hat niemand mitgekriegt, dass ihr euch Lieder anhört, die ihr heute noch, Jahre später, aus voller Kehle mitsingen könntet. Lieder, von denen euch damals schon bewusst war, wie peinlich sie eigentlich sind.

 

Ist euch Kindern der 90er schon mal aufgefallen, dass Texte in den 90ern vielfach seeeehr zweideutig waren, gesungen von Mädchen und Buben, die kaum die 20 vollmachten? Mir nicht. Ich habe mich erfolgreich vom Beat der Musik und dem Zappeln der Sänger und Tänzer ablenken lassen. Aber das ist ein anderes Thema.

 

Ihr fahrt also zur Arbeit, mit vielen anderen, die sich auch Musik anhören. Fragt ihr euch dann auch manchmal, was die sich wohl anhören? Was würde ich über deren Sound denken?

Kolumne "Autorin auf Schienen"; veröffentlicht auf Berglink.de

Anja Berger auf Facebook