Hallo! Mein Name ist Anja Berger. Ich bin Autorin und ich habe kein Auto. Deshalb fahre ich oft Zug. In der zweiten Klasse. Absolut freiwillig und absichtlich. Ich bin bekennender Fan unserer Schweizerischen Bundesbahnen, kurz: der SBB. Das geht soweit, dass ich morgens aufstehe, an den Bahnhof fahre und mir spontan ein Ziel aussuche. Wichtig dabei ist, dass die Zugfahrt möglichst lange dauert. Die Reisezeit nutze ich, um zu Schreiben.
Auf solchen Ausfahrten wird man unabsichtlich Zeuge von vielen Dingen. Da kommt es schon mal vor, dass meine Gedanken weiter reisen, als meine Zugverbindung. Solchen (Gedanken-)Ausflügen widme ich mich in meiner neuen Kolumne «Autorin auf Schienen».
Von Thun nach Winterthur – Von blauen Zähnen in Zügen
Am späteren Nachmittag steige ich in Thun in den Zug ein. Ich bin nach einem spontanen Ausflug auf dem Weg zurück nach Winterthur. Noch bevor ich mich in meinem Abteil einrichte, zücke ich mein Mobiltelefon. Wie eigentlich immer.
Aber nicht etwa, um die Nachrichten zu checken. Das habe ich während des Wartens auf den Zug bereits erledigt. Ich möchte vielmehr wissen, wer neben mir sonst noch so von einem Ort zum andern gefahren werden möchte. Warum ich dafür auf mein Handy starre? Die Antwort lautet: Blauer Zahn.
Ich entsperre den Bildschirm Meines Handys und weiß Bescheid. Das Bluetooth möchte sich mit einer Lotta verbinden. Wie so oft frage ich mich: Wer ist Lotta? Was tut sie? Wie lebt sie? Ich schaue mich um. Es gibt in meinem Blickfeld drei Frauen. Welche davon könnte Lotta sein? Die mit dem Businnessoutfit und den weißen Turnschuhen? Die Absätze ihrer schwarzen Pumps, mit denen sie vermutlich tagsüber ihre Füße schindet, lugen aus ihrer überdimensionierten Handtasche raus.
Oder ist Lotta die Frau mit den feinen braunen Locken und der schmalen Brille? Mit der Hand, in der sie das Handy hält, klemmt sie einen Stapel Papier und farbige Mäppchen auf dem Knie fest, wobei eines der Schriftstücke rauszurutschen droht. Die roten Markierungen auf den mit krakeliger Handschrift beschriebenen Blättern lassen mich vermuten, dass sie Lehrerin ist.
Vielleicht ist Lotta aber auch das Mädchen mit dem langen, schwarzen Haar, das sie in der Mitte gescheitelt trägt. Ihre flinken Finger fliegen geradezu über den Handybildschirm Sie scheint völlig in die Welt aus Nullen und Einsen vertieft zu sein. Sie wirkt auf mich zwar nicht wie eine Lotta, und ein Mädchen ist sie wohl auch nicht mehr. Eher ein Teenager.
Also noch einmal: Wer ist Lotta? Geht es ihr gut? Führt sie ein aufregendes Leben oder bedrückt sie etwas? Hat sie einen Hund? Goldfische? Bekommt sie heute noch Besuch oder freut sie sich nach dem Füttern der Nachbarskatze auf einen entspannten Fernsehabend? Erhält sie gerade heute einen lebensverändernden Telefonanruf? Ich habe keine Ahnung.
Der Zug hält in Zürich. Zwei meiner drei Frauen steigen aus. Ich schaue auf mein Handy. Lotta ist noch da. Auch die Frau mit den weißen Turnschuhen sitzt noch auf ihrem Platz.
Dazu gekommen ist ein Markus. Wer ist Markus? Schnarcht Markus so, wie der Mann auf dem Platz neben mir?
Oh! Da gesellt sich noch ein Lukas dazu! Ich recke den Hals. Der mit der Laptop-Tasche auf der einen Schulter und der Sporttasche auf der anderen könnte Lukas sein. Sein Handydisplay beleuchtet ein freundlich wirkendes Gesicht.
Lotta, Markus und Lukas. Drei Personen, mit denen mir das Bluetooth meines Handys eine Verbindung anbietet. Ich überlege mir, die Namen auf meinem Display anzutippen. Vielleicht zieht jemand seine Stirn kraus, weil auf einmal die Nachricht aufploppt, dass Anjas iPhone sich mit ihm oder ihr verbinden möchte. Vielleicht sieht die Person ja auf und versucht herauszufinden, wer denn Anja ist. Vielleicht treffen sich die Blicke … Und was dann?
Ich werde es nie erfahren. Mein Zug trifft im Bahnhof Winterthur ein und ich steige aus. Lotta, Markus und Lukas verschwinden von meinem Display. Der Kontakt ist verloren. In der virtuellen wie auch in der realen Welt.
Kolumne "Autorin auf Schienen"; veröffentlicht auf berglink.de